Abenteuer 100 Tage Südamerika Teil 2 . Oder: Willkommen in Sucre

Vor nicht einmal 24 Stunden sind wir in Sucre gelandet und starteten früher als erwartet in unser „Abenteuer 100 Tage Südamerika“. Mitten im Ausnahmezustand (vgl. Erlebnisbericht Teil 1) angekommen, mussten wir uns unseren Weg über vier Stunden lang vom Flughafen zur Unterkunft zu Fuß vorbei an Barrikaden und Demonstranten bahnen.

Doch alle Anstrengung und Anspannung war über Nacht verfolgen. Als wir am nächsten Morgen aufwachten, fühlten wir uns pudelwohl. Kein Jetlag, keine Müdigkeit, keine Anzeichen, dass unser Körper mit der ungewohnten Höhe – zur Erinnerung: Sucre liegt auf fast 3.000 Metern – zu kämpfen hätte. Im Gegenteil. Wir waren voller Energie und konnten es kaum erwarten, uns zu einer ersten Erkundungstour aufzumachen. Welche Eindrücke werden wir wohl von der Stadt gewinnen, in der wir einige Zeit verweilen wollen?

Von Kaffeedurst und Frühstückslaune getrieben, dauerte es nicht lange und wir waren startklar, doch offensichtlich etwas spät dran. Alles war schon ausgeflogen. Weder weitere Gäste noch Tanja, die Besitzerin des Hostels, waren da, als wir über den Hof gingen und auf die Gasse vor dem Haus traten.

Dieses Bild wurde in Bolivien aufgenommen und zeigt eine sonnendurchflutete gepflasterte Gasse in Sucre, links weiße Hauswände, rechts braune Steinmauern.
Ruhig und beschaulich: die Gassen Sucres am Morgen…

Was für ein schöner Tag! Es ist ganz ruhig. Nur wenige Menschen sind unterwegs, zwei Hunde liegen faul in der Morgensonne, die auf die weißen Hausmauern strahlt. Ja, ganz offensichtlich hatten wir uns – abgesehen vom gestrigen Start – für unseren zweiwöchigen Sprachaufenthalt in Südamerika ein richtig tolles Plätzchen ausgesucht, jetzt gilt es heute nur noch die passende Schule finden. Ein freudiges Kribbeln gepaart mit Aufgeregtheit überkam uns. Fremdes Land, fremde Stadt, fremde Sprache, fremde Bevölkerung, kurz: die Begegnung mit dem vollständig Unbekannten – einfach nur spannend…

Überraschend: erste Begegnungen in der Fremde

Den Blick auf den Stadtplan gerichtet, versuchten wir uns zu orientieren. Wo befanden wir uns im Moment und wo liegen die Sprachschulen, von denen wir uns nun persönlich einen Eindruck verschaffen wollten? In Gedanken stellten wir den Weg unserer Besichtigungstour zusammen und gingen dann die gewählte Route vor Augen weiter. Zwei Blocks nach rechts, dann gleich nach links – doch dann ging gar nichts mehr.

Plötzlich und ohne jegliche Vorwarnung standen wir vor einer Wand, vor einer Wand aus Menschen, die die gesamte Straße versperrten, von der einen bis zur anderen Seite. Angestrengt versuchten wir die Situation zu erfassen:

Diese Aufnahme aus Sucre, Südamerika, zeigt eine Menschenmasse, die sich hinter einem Transparent zum Protestzug durch die Gassen bereit macht.
Kein Durchkommen: Protestzüge unterschiedlicher Collective ziehen tagelang durch die Gassen von Sucre und machen sie immer wieder unpassierbar.

Es mussten Hunderte sein, die sich hier den ganzen Straßenzug entlang zusammengefunden hatten und denen wir nun gegenüberstanden. Überwiegend männliche Augenpaare starrten uns entgegen, schienen uns eindringlich zu mustern. Einige von Ihnen hatten Stöcke und Knüppel in der Hand, andere hoben Fahnen oder Transparente hoch. Es war auffällig still. Mucksmäuschenstill. Wir hörten keinen Ton, bis auf unsere Herzen, die bis zum Hals schlugen. Was ging hier vor sich?

Dann, ganz langsam hoben sie ihre zu Fäusten geballten Hände in die Luft, wippten unruhig von einem Fuß auf den anderen. Noch ehe wir einen klaren Gedanken fassen konnten, erklang ein schriller Pfiff und die gesamte Masse setzte sich schlagartig in Bewegung, voller Entschlossenheit direkt auf uns zu. Sprechchöre und wütende Rufe durchbrachen laut die Stille, Gegenstände schlugen gegen Hauswände, irgendwo weiter hinten eine Explosion.

Wir zuckten zusammen und ein Gefühl der Angst stieg in uns auf, hier mitten auf der Straße stehend, sozusagen direkt auf dem Serviertablett massenhaft Fremden gegenüber, deren Gesinnung wir nicht im Entferntesten erahnen konnten. Die dringlichen Reise- und Sicherheitshinweise des Auswärtigen Amtes für Bolivien schossen uns unvermittelt durch den Kopf: „Reisenden wird dringend empfohlen, Protestveranstaltungen und Menschenansammlungen zu meiden…“.

Das Bild zeigt eine Momentaufnahme des Streiks in Sucre, Südamerika, wo die wütende Masse in einer Straße steht, vor ihr Rauch.
Unsicher: Mit welchem Gewalt- und Gefahrenpotenzial ist angesichts solcher Bilder zu rechnen?

Mit welchem Gewaltpotenzial war wohl zu rechnen, in einem Land, das immer wieder durch heftige Konflikte und soziale Unruhen von sich reden machte? Wir kannten die Antwort nicht und hatten auch keine Zeit, länger darüber nachzudenken. Nur eines schien gewiss: Nicht leichtsinnig sein, kein Risiko eingehen, lieber umdrehen und einen anderen Weg durch die Stadt suchen, auf jeden Fall raus aus der Gefahrenzone. Doch dazu war es bereits zu spät…

Ungeschminkt: die protestierende Seite Südamerikas

Unser Versuch auf eine andere Straße auszuweichen scheiterte. Als wir uns umdrehten, ein paar Meter weiter wieder auf der Kreuzung standen, strömten aus jeder Richtung Demonstranten auf uns zu. Wohin wir uns auch wenden wollten, es gab keine Ecke, kein Schlupfloch, durch das wir den Massen hätten entkommen können. Noch ehe wir es uns versahen, fanden wir uns mitten im „Streikkessel“, eingezingelt von verschiedenen Protestzügen, die auf großen Transparenten ihre Zugehörigkeit deutlich machten.

Demnach schien es, als wenn die Collective und Syndicate ihre „Compagneros“ aus dem gesamten Umland aktiviert hätten, um auf die Straße zu gehen. Parolen und Forderungen schallten aus den Megafonen und aus den Mündern der Menschen auf den Straßen. Lauter und lauter und lauter: „INCUHUASI ES DE CHUQUISACE“, „INCUHUASI ES DE CHUQUISACE“…

Tagelang versammeln sich die „Compagneros“ unterschiedlicher Collective und Syndicate auf den Straßen Sucres.

Die stimmgewaltigen Sprechchöre, Sirenen, die durch die Luft hallten, immer wieder Explosionen gefolgt von Rauchschwaden, die in den Himmel stiegen: All das trug nicht gerade zu unserer Beruhigung bei. Und während die Stimmen erklangen, wurden wir mit durchgeschoben und geschubst, durch die Gassen der Stadt. Schulter an Schulter mit der aufgebrachten Menge ging es vorwärts, vorbei an geschlossenen Geschäften, hinter deren Gitterstäbe Ladenbesitzer voller Sorge das Geschehen vor ihrer Türe verfolgten.

Irgendwo musste es doch einen Ausweg geben. Suchend schauten wir in jede Seitenstraße hinein, nach einer Chance auszubrechen aus dem Strom, aus der Enge, aus der zunehmenden Atmosphäre der Wut und Entschlossenheit. Doch sahen wir keine Lücke, sondern nur immer mehr Menschen, die sich dem Protestzug anschlossen.

Unsere Nervosität steigerte sich mit jedem Atemzug. Wahnsinn! Ganz Sucre schien sich im Ausnahmezustand zu befinden und wir mitten drin in der Menge, die sich lautstark artikulierend in den Straßen drängte. Leider verstanden wir jedoch im Moment so gut wie nichts von dem, was uns zu Ohren kam. Hoch konzentriert versuchten wir daher das Geschehen um uns herum zu beobachten, nach Zeichen einer etwaigen gewalttätigen Eskalation Ausschau zu halten.

Unvergesslich: Gesichter eines Streiks

Von Angesicht zu Angesicht blickten wir in die unglaublich ausdrucksvollen Gesichter der „Compagneros“ – junge Frauen und Männern, ältere Menschen, die meisten von ihnen Indigenas… Die Eindrücke, die wir dabei gewannen, glichen einem Spiegel der bolivianischen Bevölkerung, deren Anblick bei uns unter normalen Umständen pure Faszination ausgelöst hätte. Doch war gerade nichts normal.

Das Bild vom Abenteuer 100 Tage Südamerika wurde in Bolivien aufgenommen und zeigt Indigenas mit ihren Schürzen und Hüten bekleidet beim Protestzug in Sucre.
In vielen Tagen des Streiks konnten wir die Gesichter der Bevölkerung beobachten: beeindruckend, ausdrucksvoll …

Immer enger wurde der Raum zwischen den Hausmauern, immer vehementer und bedrohlicher die gesamte Geräuschkulisse. In der Nähe wieder heftige Explosionen. Hinter uns schreit jemand, dann Trommelwirbel und wieder dröhnte wie eine Mahnung der Satz durch unsere Köpfe „…Massenansammlungen im ganzen Land vermeiden…“! Vermeiden! Das war leichter gesagt als getan.

„Momentaufnahmen“: Akustische Eindrücke unserer „Streikerfahrungen“ in Sucre.

Unglaublich: Massenversammlung im Herzen Sucres

Ein Blick auf die Uhr zeigte, dass wir mittlerweile gut eineinhalb Stunden – eine gefühlte Ewigkeit – kreuz und quer durch die halbe Stadt gedrückt wurden bis wir schließlich auf einen riesigen Platz zusteuerten. Jetzt wurde uns einiges klar: Der scheinbar chaotische und willkürliche Gang durch die Stadt hatte ein klares Ziel. Alle Protestzüge, die in den Außengebieten Sucres ihren Anfang fanden, liefen auf den Plaza 25 de Mayo zu, hin zum „Gobierno Autónomo Departamental de Chuquisaca“.

Hautnah erleben wir in Sucre die ausgeprägte Streikkultur Südamerikas.

Es waren (wie wir später auch der Zeitung entnehmen konnten) Tausende von Chuquisaquenos, die auf dem großen Platz im Zentrum der institutionellen Hauptstadt Boliviens dicht an dicht gedrängt langsam zum Stehen kamen – und wir mittendrin. Alle richteten die Augen auf den Balkon des weißen, eindrucksvollen Regierungsgebäudes. Durch Lautsprecher hörte man die Kundgebungen der Redner, die sich oben versammelt hatten, von unten erklangen wütend Parolen im Chor, angeheizt durch einzelne Sprecher, die durch Megafone schrien.

Dieses Bild aus der Serie "Abenteuer 100 Tage Südamerika" wurde in Sucre während der Proteste im Mai 2018 aufgenommen und zeigt die Demonstrierenden vor dem Plaza 25 de Mayo.
Wütend und entschlossen demonstrieren Tausende vor dem Regierungsgebäude in Sucre.

Nun, wo wir nicht mehr in Bewegung waren, ließ unsere bisherige Konzentration auf das, was sich um uns herum ereignete, merklich nach. Langsam spürten wir, wieviel Kraft und Nerven uns der unfreiwillige Gang durch Sucre in den letzten Stunden gekostet hatte. Wir waren erschöpft, hungrig, durstig und wollten nur noch hier raus.

Überfällig: raus dem Streikkessel

Die Hoffnung schon fast aufgegeben, tasteten wir mit den Augen immer und immer wieder die gesamte Umgebung auf der Suche nach einem Fluchtweg ab. Dann, irgendwann, sahen wir endlich eine Chance. Am anderen Ende des Platzes schien eine Gasse wegzuführen, aus der keine weiteren Demonstranten mehr strömten. Die müssen wir erreichen. Vielleicht 40 bis 50 Meter. Das müsste zu schaffen sein.

Wir mobilisierten unsere letzten Kräfte, zwängten uns sukzessive zwischen den Menschen vorbei und waren froh, um jeden, den wir hinter uns ließen. Zwei Schritte vor, einer zurück, so könnte man den Rhythmus unseres Vorwärtskommens beschreiben, bis wir schließlich in der Gasse standen, durch die wir dem Streikkessel entkommen wollten.

Impressionen einer lang andauernden Protestphase.

Nun, am Rande des Geschehens angekommen, schnauften wir tief durch. Erst die gestrige Anreise unter „erschwerten Bedingungen“, nun in Summe gut drei Stunden mitten in einem riesigen Protest gelandet, anstatt einer gemütlichen Erkundungstour nachzugehen: Wir hatten ja mit vielem gerechnet, viel gelesen, was einem so alles in Südamerika passieren kann. Doch das überstieg unsere Vorstellungskraft. Schluss für heute! Auch wenn der Nachmittag gerade erst angebrochen war, so verspürten wir keinerlei Lust mehr auf unsere Erkundungstour, geschweige denn auf die Suche nach einer Sprachschule. Schließlich ist morgen auch noch ein Tag.

Unbefristet: „Paro Indefinido“ in Bolivien

Dass an den folgenden Tagen der Konflikt um die Gasreserven von Incuhuasi und der Kampf um die Korruption der Politiker in der Verteilungsfrage jedoch so sehr eskalieren sollte, dass er Gegenstand auf den Titelseiten der Tageszeitungen sein würde und Anlass für aktuelle Reise- und Sicherheitshinweise, die Region Sucre zu meiden (Quelle: Auswärtiges Amt 07.05.2018), davon ahnten wir zu diesem Zeitpunkt glücklicherweise noch nichts. Obwohl, eigentlich hätten wir es uns denken können…

Das Bild zeigt die Titelseiten zweier Tageszeitungen von Bolivien, in denen über den Streik in Sucre mit Bildern vom Plaza 25 de Mayo berichtet wird.
In den großen Tageszeitungen wird erst das Ausmaß der Protestaktionen ersichtlich.

Als wir im weiten Bogen um die Innenstadt herum Richtung Unterkunft zurückgingen, liefen wir an den Vorzeichen direkt vorbei:

Überall waren die Straßen systematisch blockiert. Keine Kreuzung war vergessen worden. Vom äußersten Ring bis ins Zentrum hinein war alles abgeriegelt, jede noch so kleine Querstraße mit Barrikaden oder Bussen zugestellt. Hier kam kein Fahrzeug mehr rein noch raus.

Abgeriegelt: Straßenblockaden in Sucre.

Selbst als Fußgänger hatte man Mühe, sich durch die Lücken hindurchzuzwängen und wir fragten uns, wie sich hier wohl im Notfall Krankenwagen, Feuerwehr oder Polizei durch die Stadt bewegen sollen? Das einzige was hier überhaupt noch fuhr, waren vereinzelte Motorräder zwischen den Barrikaden. Es sah aus, als würden die Fahrer eine Art (nicht ganz ungefährlichen) „Zubringerdienst“ anbieten und brachten ihre „Fahrgäste“ vom einen bis zum nächsten Hindernis.

Normalität sah anders aus. Wie lange würden die Blockaden und Bürgerproteste auf den Straßen Sucres wohl anhalten? Die Antwort gaben uns die Plakate am Straßenrand: „PARO INDEFINIDO“. Was das bedeuten soll? „Streik auf unbestimmte Zeit“…

Das Bild unseres "Abenteuers 100 Tage Südamerika" zeigt ein großes gelbes Plakat mit dem Schriftzug "Paro indefinido", das in den Straßen Sucres stand.
Die Bürgerproteste auf den Straßen Sucres sollten einige Zeit andauern.

 

>> Und so geht es weiter: Abenteuer 100 Tage Südamerika Teil 3 . Oder: Man lernt nie aus

>> Was bisher geschah: Abenteuer 100 Tage Südamerika Teil 1 . Oder: Landen im Ausnahmezustand

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